Aggression vs. Schlittenhund

Nehmen wir uns als Einstieg zu diesem wichtigen Thema die Zeit, die von der FCI (Fédération Cynologique Internationale) im Rassestandard der nordischen Schlittenhunde festgelegten Verhaltens- und Wesenseigenschaften zu konsultieren:

  • Samojede: freundlich, aufgeschlossen, munter und lebhaft mit sehr gering ausgeprägtem Jagdinstinkt. Keinesfalls scheu oder aggressiv. Sehr gesellig; als Wachhund ungeeignet
  • Grönlandhund: Die vorherrschenden Charaktereigenschaften des Grönlandhundes sind Energie, Beharrlichkeit und Mut. Er ist ein passionierter und unermüdlicher Schlittenhund. Menschen, auch Fremden gegenüber, verhält er sich freundlich; wenn er als Schlittenhund verwendet wird, ist er nicht an eine bestimmte Person gebunden und ist deshalb auch nicht als Wachhund geeignet. Er zeigt einen starken Jagdinstinkt für Seehund und Eisbär
  • Alaskan Malamute: Der Alaskan Malamute ist ein anhänglicher, freundlicher Hund, kein "Ein-Mann-Hund". Er ist ein treuer, ergebener Begleiter, verspielt, wenn er dazu aufgefordert wird; vor allem beeindruckt er aber durch seine Würde, wenn er ausgewachsen ist
  • Siberian Husky: Das charakteristische Temperament des Siberian Husky ist freundlich und sanftmütig, aber auch aufmerksam und kontaktfreudig. Er zeigt nicht die besitzbetonenden Eigenschaften eines Wachhundes, noch ist er allzu misstrauisch gegenüber Fremden oder aggressiv gegenüber anderen Hunden. Von einem erwachsenen Hund darf ein gewisses Mass an Zurückhaltung erwartet werden. Seine Intelligenz, Lenkbarkeit und sein Eifer machen ihn zum angenehmen Begleiter und willigen Arbeiter

Der aufmerksame Leser erkennt, dass keine dieser vier Rassen Aggression aufweisen oder zu Streitsucht neigen darf. Hingegen ist sehr wohl vorkommende Aggression bei allen oben aufgeführten Schlittenhunden ein zuchtausschliessender Fehler! Woher kommt das? und stimmt dies wirklich?

Schlittenhunde arbeiten in der Meute, nur gemeinsam ist ihre Arbeit erfolgreich; gegenseitige Toleranz ist oberstes Gebot! Aggression hat bei Schlittenhunden oder auch ganz allgemein bei Hunden, welche in der Gruppe (wie auch Jagdhunde) arbeiten, keinen Platz. Stellen wir uns doch ein Grönlandhundeteam mit aggressiven Hunden vor? oder einen einsamen Trapper mit streitsüchtigen Alaskan Malamutes? Weder die Jagd des Inuit noch des Trappers wäre von Erfolg gekrönt - keiner würde mit aggressiven Hunden züchten!

Immer wieder hört man argumentieren, die Grönis sind halt Raufer oder die Malamuten kann man nicht überholen - diese Liste wäre leider beliebig erweiterbar. Woher rührt das?

Wir halten unsere Schlittenhunde in Meuten; und bei der Haltung in Gruppen, welche nicht natürlich zusammengesetzt sind, können Probleme entstehen. Und schnell wird dann das Erklärungsmodell "Rangordnung" zu Felde geführt. Aber haben rüberbeissende - also aggressive - Schlittenhunde, wenn sie überholt werden oder sich auf dem Treppchen ankeifende Hunde etwas mit Rangordnung zu tun? Ich wage hier eine "blasphemische" Aussage und stelle das Konzept der Rangordnung bei Hunden ganz generell in Frage! Das Konzept der Rangordnung ist nichts anderes als ein Erklärungsmodell, das uns helfen soll, bestimmte Verhaltensmuster soziallebender Tiere besser zu verstehen und auch vorherzusagen. Es wurde von Wissenschaftern im frühen 20. Jahrhundert eingeführt. Aber es handelt sich dabei nach wie vor um ein Modell; für einige Hundeleute, so scheint es, ist es jedoch zur Religion geworden (Zitat H. Krisa). Denn das weit verbreitete Bild vom Alpha-Syndrom ist häufig von menschlichem Hierarchiedenken (hoher Posten entspricht hohem Ansehen) gesteuert und hat mit dem Sozialgefüge eines gesunden Wolfsrudels oder einer gesunden Hundemeute nichts gemeinsam (Hallgren 2006). Es gibt sehr wohl Leader, die bestechen aber durch eine natürliche und aggressionslose Autorität.

Verhaltensstudien der letzten Dekaden zeigen hingegen ganz andere Tendenzen. Mech (1999) führt an, dass frei lebende Wolfsrudel wie eine Familie strukturiert sind und durch die Elterntiere über ein System der Arbeitsteilung souverän und ohne übertriebene Aggression geführt werden; jedes Mitglied hat seine bestimmte Aufgabe. Dieses Familienleben spielt sich sehr ruhig und unspektakulär ab - ganz anders, als wir es von den in Gefangenschaft lebenden Wölfen kennen. Deren leicht aggressive Verhaltenstendenzen lassen sich durch den offensichtlich unerträglich hohen Stresslevel erklären, dem die Tiere durch das Leben in Gefangenschaft unweigerlich ausgesetzt sind; Tiere, welche nicht in das Rudel passen, können aber nicht gehen - wie bei unseren Hundemeuten. Wir dürfen daher keinesfalls den Fehler begehen, Stressverhalten von Wölfen mit dem Normalverhalten unserer Hunde gleichzusetzen! Coppinger (2003) zeigt auf, dass die Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den heute lebenden Wölfen und unseren Hunden weniger eng sind als wir gemeinhin annehmen. Daher ist es auch gefährlich, zu viele Parallelen zwischen diesen beiden Subspezien zu ziehen. Hunde sind keine Wölfe. Schlittenhunde laufen nicht als Rudel. Beim Rudel geht es darum, gemeinsam zu jagen. Schlittenhunde laufen, weil die anderen Hunde laufen und durch den Mitmacheffekt dazu motiviert werden. Und dieser Lauf unserer Schlittenhunde hat einen mächtigen und spürbaren Rhythmus.

Um Hunde zu verstehen, brauchen wir keine Rangordnungs- oder Dominanzregeln, sondern viel mehr ein fundiertes Wissen über:

  • Sozialisation von Hunden
  • Wesen und Verhalten von Hunden
  • positive Trainingsmethoden sowie v.a.
  • Aufbau einer starken Bindung und vertrauensvollen Beziehung zu unseren Schlittenhunden

Dieses Wissen hilft beim Umgang mit Hunden nachhaltig; wir erhalten dadurch sichere, stressfreie und weder über- noch unterforderte Hunde - was zu weniger Aggression führt!

Literaturempfehlung

© Luzi Bernhard, eh. Wesensrichter SKNH